Donnerstag, 23. April 2009

Der Monolog

„Guten Morgen!“ grinsend betrachte ich mein tropfnasses Gesicht im Badezimmerspiegel. Der ganze Raum ist Sonnengeflutet, die Vögel zwitschern fröhlich vor dem Fenster. Ich zwinkere mir verschmitzt zu. Mein Spiegelbild zwinkert zurück. Ich ziehe meine Nase kraus. Mein Spiegelbild tut es mir gleich. Ich lächle, aber kein Lächeln kommt zurück. Verwundert frage ich mich was los ist.
„Wieso soll ich lächeln wenn ich traurig bin?“ fragt mich mein Spiegelbild zurück.
„Du kannst nicht traurig sein,“ erwidere ich, „du bist ich, und ich bin glücklich!“
„Bist du dir da so sicher?“ fragt mich mein Spiegelbild wieder.
„In wie weit sicher? Ob du ich bist?“
„Nein, dass du glücklich bist.“
„Natürlich!“ sage ich mit Nachdruck.
„Dann scheint es so zu sein,“ erwidert das Spiegelbild leise, „aber dann bin ich nicht du.“
Trotzig hole ich Luft und schaue meinem Ebenbild fest in die Augen. „Wie kannst du so etwas sagen?!“
Eindringliche, fragende Augen blicken zurück. „Dann erklär es mir!“
Ich blinzele. „Was?“
„Dein Glück, wo ist es?“
Ich zupfe an meinem Ohr. „In mir.“
„In dir? Ich kann es nicht erkennen.“
„Dann schau genauer hin!“ demonstrativ recke ich mir mein Gesicht entgegen. „Andere können es schließlich auch erkennen.“
„Andere?“
Ich weiche vor mir zurück. „Ja, andere, meine, meine Freunde!“
„Ach, deine Freunde.“ Kommt es etwas verächtlich zurück. „Sind es Freunde?"
„Natürlich!“ sage ich meine Arme vor der Brust verschränkend. „Natürlich – es sind auch deine Freunde.“
Traurig lächelnd, fas mitleidig schautemich mein Spiegelbild an. „Da bin ich nicht so sicher wie du. Wie können es meine Freunde sein? – Sie haben mich niemals kennengelernt.“
Stille, nur ein leises, stetiges Blubb war zu hören.
(YM 08.10.2003; 24.05.2018)



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